Alltag

Miteinander unbefangen und natürlich umgehen – das fällt nicht nur behinderten Menschen schwer

Letztens saß ich in der Bahn und gondelte so durch die Innenstadt, als sich mir gegenüber ein verliebtes Pärchen setzte. Das Mädchen hockte sich an das Fenster, während der Junge sich neben sie fallen ließ.

Ihr ahnt es sicher schon: Das Pärchen war behindert. Beide hatten ganz offensichtlich eine gesitige Behinderung und waren ganz offensichtlich total verknallt ineinander.
Es wurde Händchen gehalten, geküsst, angegrinst. Ich wurde dabei gar nicht bemerkt.

Kuschelnd unterhielten sich die beiden, bis ein Streit entflammte. Worum es ging, kann ich gar nicht so genau sagen, aber die säuselnden Stimmchen kippten plötzlich in eine ganz andere Tonlage. Es wurde gekeift und gekniffen. Danach war erst einmal schmollen angesagt. Die beiden waren ausgewachsene Erwaschsene. Und benahmen sich wie wütende Kinder, was ja oft typisch für geistig behinderte Menschen ist. Aber um ehrlich zu sein, die beiden haben mich zum Nachdenken angeregt.

Denn während unsere Beziehungen oft von einer doppelbödigen Kommunikation getragen wird, waren die beiden einfach schonungslos ehrlich. Es wurde gesagt, was gedacht wurde. Nicht angedeutet, nicht herunter geschluckt und auch nicht vorgeworfen. Es war, wie es nunmal war. Und so wurde es auch gehandhabt. Den anderen mal nicht zu mögen – für die beiden eine ganz normale Sache. Und auch kein Weltuntergang. Es dauerte nämlich keine fünf Minuten, bis die beiden sich wieder schief anlächelten und die eine Hand in die des anderen rutschte. Stille Versöhnung.

Natürlichkeit war hier das Zauberwort. Und das ist etwas, was uns ,,gesunden“ oft abhanden gekommen ist. Wir gehen unnatürlich mit unseren Gefühlen um, verdrängen sie oder reagieren überzogen und unangemessen. Anstatt dem anderen zu sagen, was wir denken, tun wir so, als wäre gar nichts los und sind in Wirklichkeit total wütend. Die beiden in der Bahn haben das Gedankenlesespiel voneinander nicht erwartet, nicht so, wie es in den meisten Beziehungen der Fall ist. Sie ging nicht davon aus, dass er weiß, was ihr nicht gefällt – also hat sie es ihm einfach gesagt. Laut und deutlich. Das ist natürlich die Holzhammermethode – aber ich möchte wetten, dass sie funktioniert.

Eine Art, unbefangen miteinander umzugehen. Warum fällt das oft nur so schwer? Auf jeden Fall wollte ich euch an meinen Gedanken teilhaben lassen, denn oft denke ich bei all dem ganzen Geschwafel über Barrierefreiheit, dass wir eigentlich noch eine Menge lernen könnten und sollten. Wie zum Beispiel das oben beschriebene. Beziehungen.

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